Davonlaufen

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Diese Kolumne habe ich Ostern in DIE ZEIT 15/2007 gefunden:

„Veteranen an die Front!
EIN RENTNER SIEHT ROT
Haug von Kuenheim wünscht sich mehr Ältere in der Politik

Kaum zu glauben, aber es gab und gibt doch wirklich Stimmen, die den frisch gekürten Kandidaten für den Hamburger Bürgermeistersessel für zu alt halten. Ja, für zu alt! Was? Der mit seinen 65 Jahren will eine Millionenstadt regieren? Ein Veteran möchte an die Front? Die so schwadronieren, meinen unseren Freund und Kollegen aus der ZEIT, Mike Naumann, der für die Sozialdemokraten den CDU- Bürgermeister Ole von Beust herausfordern wird.
Man fasst es nicht. 65 Jahre und zu alt.
Alter ist nicht gleich Alter. Das Alter hat viele Gesichter. Zum Beispiel schätzen wir das Alter eines sechsjährigen Kindes meistens recht genau ein. Bei einem 75-Jährigen liegen wir hingegen oft daneben. Der kann ausschauen wie 80 oder 60. Eigentlich müsste es längst Allgemeingut geworden sein: Die heutigen Alten sind vitaler als die Gleichaltrigen aus früheren Generationen. Ein 65-Jähriger des Jahres 2007 ist geistig und körperlich so fit wie ein 50- bis 60-Jähriger vor dreißig Jahren.
Der herrliche Spruch, den Jacob Grimm vor fast 150 Jahren in der Berliner Akademie der Wissen- schaften zitierte, ist längst überholt: Vierzig Jahre stillestan, fünfzig Jahre geht Alter an, sechzig Jahre ist wohlgetan, siebzig Jahre ein Greis, achtzig Jahre schneeweiß, neunzig Jahr der Kinder Spott, hundert Jahr gnad Dir Gott. In unseren Tagen glauben nur noch Gewerkschaftsfunktionäre an die Sprüche von dunnemals. Sie halten einen 65-Jährigen heute nicht mehr für leistungsfähig, der deswegen unbedingt in den Ruhestand geschickt werden soll. Diese Einstellung sollte schleunigst aufgegeben werden, denn sie widerspricht allen Erkenntnissen. Im Gegenteil, eine starre Altersgrenze für den Einstieg ins Pensionsalter darf es nicht länger geben.
Gewiss, im Alter gibt es nicht zu leugnende Defizite. Neues schnell zu lernen fällt unsereinem schwerer als einem Springinsfeld. Der Ton liegt auf schnell. Aber wir müssen ja nicht unbedingt chinesische Vokabeln büffeln, und auch ein Hamburger Bürgermeister muss dies nicht tun. Dafür bringen wir in der Regel Lebenserfahrung ein, soziale Kompetenz, Ausdauer, verstehen mit Menschen umzugehen und haben auch unsere Neugierde nicht verloren.
Dass nun in der Politik praktisch nur das Mittelalter den Ton angibt, die 40- bis 50-Jährigen – im Bundestag sind weniger als eine Handvoll über 70 Jahre alt –, ist von Nachteil. Denn die Gruppe der Mittelalterlichen ist es, die das Alter lieber verdrängt und es nur als Problem definiert. Sie übersieht geflissentlich die Chancen und Möglichkeiten, die das Alter bietet.
Quod erat demonstrandum. 65 Jahre – ein gerade-zu idealer Zeitpunkt, um sich als junger Alter noch ein paar Lorbeeren zu holen.“
Haug von Kuenheim ist 72. Nach 40 Jahren bei der
ZEIT – unter anderem als Leiter des Modernen Lebens
und stellvertretender Chefredakteur – privatisiert er heute.

Nicht nur Peter Lessing (M65) würde übrigens dem Ole von Beust locker davonlaufen…

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